Graue Nebelfetzen wabern durch die kahlen Äste. Ein großer Vogel gleitet über mich hinweg. Er stößt einen scharfen Schrei aus. Will mich warnen.
Zu spät.
Ich verstecke mich. Kauere hinter einem Busch. Wage es kaum, zu atmen.
Die Männer springen von der Ladefläche des Pickups, halten den Lauf ihrer Gewehre in die Luft. Sie tragen Tarnanzüge und Sturmhauben. Über ihren Schultern hängen schwere Patronengurte.
Sie johlen.
Gewehrsalven krachen in den Himmel.
Einer der Männer hat sein Gesicht mit einem schwarzen Tuch verhüllt. „Lasst die Köter raus!“, befiehlt er. „Sie sind hungrig.“ Er lacht hämisch.
Die Hundemeute treibt die Beute vor sich her.
Schüsse rattern aus den Maschinenpistolen.
Bösartiges Gelächter.
Das Wildschwein bricht zusammen. Die Hunde stürzen sich auf den zuckenden Körper. Zerren blutige Brocken aus dem Kadaver.
Sie knurren. Beißen sich gegenseitig weg.
Jeder will das beste Stück.
„Hubertus!“, schreie ich stumm in mich hinein.
Ich sehe die schwarzen Lederstiefel. Der Vermummte steht über mir. Der Lauf des Sturmgewehrs zielt auf mich.
„Steh auf!“, befiehlt er. Neben ihm hockt ein nacktes weißes Viech. Ein Bullterrier.
Ich gehorche. Halte die Hände hoch.
Der Kampfhund hechelt wie ein gehetztes Tier. Zähe Speichelfäden triefen ihm aus dem Maul.
Er zerrt an der rostigen Kette. Will sich auf mich stürzen.
„Kusch!“ Der Vermummte reißt ihn harsch zurück.
Das Stachelhalsband bohrt sich tief in die Kehle der Bestie. Sie jault auf, zieht die Lefzen hoch und bleckt die Zähne. Leckt sich nervös über die Schnauze.
„Guckt mal, was ich für euch hab!“ Der Anführer ballert in die Luft.
Die Männer glotzen mich durch die Sehschlitze an. Ihre Augen sind blutunterlaufen.
„Wer bist du, Alda?“, fragt einer von ihnen.
Die Angst schnürt mir die Kehle zu.
„Ich heiße Eberhard“, presse ich heraus.
Die Männer grölen. „Eberhard! Was sagt man dazu?“, höhnt der Anführer. „Was machen wir jetzt mit ihm?“
„Was schon? Eber jagt man!“ Der Maskierte, der das sagt, zielt mit der Kalaschnikow auf mich. „Menschenjagd! Bum, bum, bum!“, brüllt er, ohne abzudrücken.
Die Männer schlagen sich vor Vergnügen auf die Schenkel.
„Menschenjagd!“, schreien sie im Chor.
„Los! Auf was wartest du noch?“ Der Anführer stößt mir das Gewehr in die Rippen.
Ich unterdrücke den Schrei, stöhne leise. Treibe meine ganze Kraft die Beine. Will losrennen, aber ich komme nicht von der Stelle. Nicht einen Millimeter. Meine Füße sind festgefroren am Boden.
„Spielverderber!“, spottet der Vermummte.
Die Kette scheppert.
Die Bestie ist frei. Sie springt mich an. Schlägt ihre Pranken gegen meine Brust.
Ich starre in ihr stinkendes Maul, falle nach hinten. Spüre einen scharfen Schmerz.
Eine tiefe Schwärze legt sich über meine Augen.
Ich trete heraus aus meinem Körper.
Sehe mich am Boden liegen.
Ich trage ein oranges Hemd.
Aus meinem Hals pulst dunkelrotes Blut.
Drei schwarze Vögel kreisen über mir.
„So schnell!“, kreischt der eine.
„So grausam!“, schreit der andere.
„So sinnlos!“, höre ich den Dritten rufen.
***
Du hast nur schlecht geträumt. Es ist alles in bester Ordnung. Eberhard S. schaltet mit zittrigen Fingern sein Nachttischlämpchen an. Noch immer geht sein Atem schwer und schnell. Ach was, versucht er sich zu beruhigen, ein schlechter Traum ist noch lange kein böses Omen. „Hier im Spessart gibt es keine Taliban. Der einzige Terrorist, den ich kenne, bist du“, sagt er zu dem jungen Eber, der ihm soeben seinen feuchtwarmen Rüssel ins unrasierte Gesicht drückt.
„Igitt. Lass das! Die Küsserei kannst du dir sparen!“, stößt der Alte die Wildsau zurück und wischt sich mit dem Ärmel seines Schlafanzugs den Glibber aus dem Bart.
„Überhaupt – was willst du denn jetzt schon draußen? Es ist doch noch sackdunkel“, Aber Eberhard ist völlig klar, seine Klage wird an Hubertus abprallen wie ein Ball an einer Betonwand. Also steht er auf und schlappt, noch immer schlaftrunken, über die knarrenden Holzdielen durch den Flur zur Haustür, um Hubertus ins Freie zu lassen. Der Eber wartet schon ungeduldig. Sein Bürzel wackelt hin und her wie ein Scheibenwischer bei einem Wolkenbruch.
„Ich sag's ja. Wenn sie die Weiber im Kopf haben …“ Mit noch schlafsteifen Fingern schiebt der Alte den Riegel des rostigen Eisenschlosses zurück und zieht die schon arg ramponierte Tür auf.
„Na, dann hau schon ab!“, ruft er dem Keiler nach, der im Schweinsgalopp in den noch dunklen Morgen davonstiebt.
***
Ausschlafen am Morgen, Tagträumen im Schatten der alten Eiche hinter dem Haus, beschauliche Abende vor dem knisternden Kaminfeuer. Ein Leben ohne Termindruck und dem ganzen modernen Kram – so hatte sich Eberhard S. sein Leben in dem alten Forsthaus im Spessart vorgestellt.
Doch dann war Hubertus in sein Leben getreten und er, ein alter Zausel von 70 Jahren, wurde Mutter. Von einer Sekunde auf die andere. Ungefragt und ungewollt wie die Jungfrau Maria. Was hätte er denn tun sollen? Zusehen, wie das hilflose braun-gelb gestreifte Wesen im Morast der ausgefahrenen Spurrille elendig zugrunde geht? Wie der Frischling verhungert und erfriert oder vom Fuchs gefressen wird? Die kommende Nacht hätte Hubertus, wie er ihn nannte, keinesfalls überlebt. Eberhard war klar, die Zukunft dieses jungen Lebens liegt in seinen Händen. Früher freilich, als er noch selbst auf die Pirsch ging, da hätte er nicht lange gefackelt. Ein Aufsetzschuss und die Sache wäre erledigt gewesen. Aber jetzt? Vielleicht war es ein Anfall von Altersmilde oder der ängstlich flehende Blick, so genau konnte er es im Nachhinein gar nicht mehr sagen, jedenfalls packte er den Frischling kurzerhand und nahm ihn mit nachhause.
„Das wird ein harter Job“, hatte ihm Babette prophezeit, die schon so manches verletzte oder verwaiste Tierkind wieder aufgepäppelt hatte. Und genau so war es gekommen.
In der ersten Zeit tat Eberhard nachts kaum ein Auge zu. Alle drei bis vier Stunden füttern. Geduldig warten, bis Hubertus das Fläschchen mit Bärenmarke ausgezuzelt hatte. Anschließend das Bäuchlein massieren, um die Verdauung anzuregen, und täglich sein Fell striegeln, damit es schön glänzte und sich kein Ungeziefer darin einnisten konnte. Eberhard war rund um die Uhr mit der Pflege seines Findelkinds beschäftigt. Sicherheitshalber und weil es natürlich praktischer war, hatte er den Weidenkorb, in dem Hubertus schlief, in den ersten Wochen zu sich ins Schlafzimmer gestellt. So hatte er ihn jederzeit im Auge und konnte sofort reagieren, wenn Hubertus irgendwelche seltsamen Geräusche von sich gab.
Als es wärmer wurde und die Sonne kräftiger schien, spielte Hubertus im Garten hinter dem Haus, grub die alten verwilderten Gemüsebeete der ehemaligen Förstersfamilie um und durchwühlte den Komposthaufen nach Maden, Würmern, Engerlingen und Käfern.
Am meisten aber genoss Hubertus die ausgedehnten Waldspaziergänge mit Eberhard. Was für eine Wonne! Ständig gab es Neues zu entdecken, und vor allem zu riechen und zu schmecken – knackige Eicheln und Bucheckern, würzige Wildkräuter, zarte Wurzeln und andere Köstlichkeiten. Der Tisch des Waldes war reichlich gedeckt für ein junges, ein wenig verhätscheltes Wildschweinkind.
Manchmal, wenn ihn die Neugierde trieb, machte Hubertus einen Abstecher ins Unterholz, um zu sehen, was dort vor sich ging. Nie aber blieb er lange weg, sondern tippelte brav wie ein folgsamer Hund neben Eberhard her und hörte zu, wie der Meister ihm die Welt erklärte. Und Eberhard hatte viel zu erzählen. Geschichten von damals, als er noch in der der großen Politik mitmischte und von den merkwürdigen Dingen, die dort vor sich gingen. „Weißt du, Hubertus …“, hatte er zu sagen gepflegt, „ich bin so froh, dass ich dich habe. Du bist zwar ein Schwein. Aber die wirklichen Schweinereien … Na ja. Das interessiert dich wahrscheinlich gar nicht.“
Und so war es dann auch.
Auch wenn Eberhard es nicht so richtig wahrhaben will – Hubertus ist inzwischen zu einem stattlichen Jungeber herangewachsen. Er braucht eigentlich keinen Lehrer und keinen Nährvater mehr. Außerdem – lange wird er Hubertus sowieso nicht mehr bei sich im Haus halten können, denn in jüngster Zeit stinkt er wie ein frisch aufgesetzter dampfender Misthaufen, und das ist Eberhard dann doch zu viel. Es ist ihm deshalb gar nicht unangenehm, dass Eberhard immer öfter hinausdrängt in den Wald. Das sind die Hormone. Die Natur kann man nicht aufhalten, muss Eberhard wehmütig eingestehen. Er ahnt, dass die gemeinsamen Tage gezählt sind.
Aber noch weiß Hubertus, wo er hingehört. Noch kommt er bei Einbruch der Dunkelheit nachhause. Völlig erschöpft lässt er sich dann auf seinem Platz unter der Kücheneckbank nieder und lässt sich Eberhard noch ein Betthupferl servieren. Immerhin, denkt Eberhard zufrieden. Was aber, wenn er eines Tages nicht mehr heimkommt, wenn die Natur zurückfordert, was sie ihm einst so großzügig überlassen hatte? Der düstere Gedanke bohrt sich in Eberhards Hirn wie eine gefräßige Made.
Noch immer steht Eberhard in der Tür und hängt seinen trüben Gedanken nach. Dann sieht er sie. Es sind viele – zehn, zwölf, vielleicht zwanzig. So schnell kann er sie nicht zählen. Wie glühende Augen durchstechen die Lichtkegel die diesige Dämmerung. Und jetzt hört er das quälende Jaulen der Motoren, das immer lauter wird. Wie eine Karawane schieben sich die Fahrzeuge den geschotterten Hangweg herauf und am Haus vorbei. Geländewagen mit chromblitzenden Bullenfängern, aufgemotzte SUVs, höhergelegte Land Rover mit protzigen Reserverädern am Heck. Ein Auto nach dem anderen parkt oben am Wegrand ein. Die Motoren verstummen. Eberhard spürt die Kälte nicht, aber er hört das hysterische Kläffen der Hunde, die danach gieren, das Wild vor sich herzutreiben – direkt vor die Flinten der Jäger. Heija Hussassa! – Was für ein Spaß!
„Aus!“, harsch werden die Hunde zur Ruhe gerufen. Noch ist es nicht soweit. Zuerst ein kräftiger Schluck: „Waidmanns Heil!“ Die Männer prosten sich lachend mit den Flachmännern zu, bevor sie auf die Hochsitze steigen und sich hinter den Tarnnetzen ihrer Unterstände verschanzen.
In Eberhards Kopf tauchen die Bilder von früher auf. Von damals, als auch er noch dazu gehörte. Die Büchse im Anschlag, die Beute im Visier, den Zeigefinger schussbereit am Abzug. Wer hat schon Mitleid mit einer Wildsau? Es gibt doch viel zu viele davon … Und außerdem – sie richten doch nur Schaden an.
„Peng! Peng! Peng!“ Die ersten Schüsse fallen.
Eberhard erschrickt. „Verdammt, ich hab Hubertus doch nicht großgezogen, um ihn von einer Horde Jäger abknallen zu lassen“, keucht er, als er mit schweren Schritten ins Haus zurückgeht. Für einen Moment trägt er sich mit dem Gedanken, in den Wald hinaufzugehen und sie zu bitten, die Jagd sofort abzubrechen. Wenigstens solange Hubertus da draußen ist. Aber Eberhard ist sich im Klaren darüber, dass sie nicht auf ihn hören werden. Auslachen werden sie ihn und fragen, wie er sich das vorstellt? In Gedanken hört er schon, wie sie ihn verspotten: „Das nächste Mal gibst du deiner Wildsau eine weiße Fahne mit, dann wissen wir Bescheid.“ Eberhard fallen die Traumbilder wieder ein. Hubertus – erschossen und von den Hunden zerfleischt. Und er, der ihm nicht helfen kann und selbst sterben muss. So schnell. So grausam. So sinnlos. Ein böses Omen.
Und Hubertus?
„Bleib liegen!“, grunzt er ihr ins Ohr und drückt sie sanft mit dem Rüssel in die Kuhle. „Hier finden sie uns nicht so leicht.“ Das Herz des Ebers rast vor Angst. Natürlich würde er am liebsten davonlaufen. Flüchten vor den Jagdhunden, die das Dickicht durchstöbern nach allem, was dort lebt und Schutz gesucht hat. Flüchten vor den Treibern, die mit ihren langen Stecken im Unterholz herumstochern und auf den trockenen Büschen herumschlagen, dass es nur so raschelt und knirscht.
Er drückt seiner Geliebten einen zärtlichen Kuss auf den Rüssel und kuschelt sich fester an ihren zitternden Körper. Sie wird sich schon beruhigen, hofft er …
„Such! Hier!“ Der Befehl kommt ganz aus der Nähe. Dann hört er das Hecheln des Hundes. Er hat Witterung aufgenommen. Jetzt entdeckt er die braun-weiß gescheckte Bracke. Sie lauert mit gefletschten Zähnen zwischen den Buchenschösslingen und knurrt drohend zu ihm herüber. Noch zögert sie. Wagt es nicht, näherzukommen.
„Du bleibst hier!“, befiehlt er seiner Geliebten und springt auf, ohne zu wissen, was er tun soll. Den Hund lässt er nicht eine Sekunde aus den Augen.
„Angriff ist die beste Verteidigung!“ Hubertus stutzt. Was war das?
„Diese Stadtköter sind Schisser! Los, mach schon! Zeig's ihm!“, spornt ihn eine vertraute Stimme an, die wie durch einen Kopfhörer zu ihm spricht.
Eberhard?
Eberhard! Natürlich – wenn einer weiß, was zu tun ist, dann er, freut sich Hubertus und stampft mit den Vorderfüßen auf, um den Hund zu beeindrucken. Die Bracke verstummt. Aber nur für einen kurzen Moment. Dann springt sie giftig kläffend auf ihn zu.
Aber Hubertus lässt sich nicht einschüchtern und geht zum Gegenangriff über. Mit gesenktem Kopf und entschlossenem Schritt geht er dem Hund entgegen.
Die Bracke spürt die Gefahr. Sie duckt sich und kriecht mit eingezogenem Schwanz rückwärts über den Waldboden. Hubertus folgt ihr. Er kann ihre Angst riechen.
„Jag das Viech zum Teufel!“, feuert ihn Eberhards Stimme erneut an.
Hubertus brüllt wie ein Löwe und scharrt mit den Hufen.
Das ist genug. Der Hund springt abrupt auf und jagt davon, als sei der Teufel hinter ihm her. Hubertus ist ihm dicht auf den Fersen. Nur noch wenige Meter und er bekommt ihn zu fassen.
„Und jetzt zeig ihm deine Hauer!“ Wieder Eberhards Stimme.
Hubertus beschleunigt sein Tempo, reißt die Schnauze nach vorn und schnappt nach dem Bein der Bracke. Der Hund spürt die Gefahr und zieht blitzschnell den Hinterlauf weg. In letzter Sekunde macht er einen scharfen Schlenker nach rechts und stürzt sich ins dornige Dickicht.
„Peng!“ Ein gewaltiger Schuss donnert durch den Forst.
***
Fürst Luitpold von Löwenfels
Fürst Luitpold von Löwenfels starrt fassungslos auf seine Jagdhündin Diana, die sich winselnd vor Schmerz auf dem Boden des grasbewachsenen Saumpfads wälzt. Aus ihrem Fang rinnen blutige Speichelfäden. Wie konnte das nur passieren? Er hatte die Wildsau doch keuchen hören, ihre Umrisse zwischen den Baumstämmen gesehen. Blitzschnell hatte er das Gewehr durchgeladen und abgedrückt. Und jetzt? Was für ein Unglück. Der alte Fürst lädt den Repetierer ein zweites Mal durch und zielt auf den weißen Fleck auf der Stirn der Bracke. Diana ist nicht mehr zu retten. Er muss sie erlösen …
Wie soll ich das bloß Bodo erklären? Luitpold schüttelt verzweifelt den Kopf. Er kann die Tränen nur mühsam unterdrücken. Wieso hatte er nicht auf ihn gehört. Sein Sohn wollte ihn von Anfang an nicht mitnehmen. „Du bist auch nicht mehr der Jüngste, Papa, und so eine Drückjagd ist gefährlich und wirklich nichts mehr für dich“, hatte Bodo ihm zu verstehen gegeben und war ohne ihn losgefahren.
Das konnte er sich doch nicht gefallen lassen. Und stur, wie er nun mal war, war er dem Tross der Jagdgesellschaft in sicherer Entfernung gefolgt. Ich werde mich von der anderen Bergseite in das Revier schleichen, hatte er sich überlegt und seinen alten Lada in einem Feldweg hinter einem Gebüsch versteckt. Dann war er mit Diana zu Fuß die Anhöhe hinaufgestapft. Das Wild flüchtet genau in meine Richtung und ich muss nur noch draufhalten. So war sein Plan. Ha, die werden blöd glotzen, die jungen Heckenschützen mit ihren supermodernen Halbautomatikgewehren, wenn ich ihnen die Beute vor der Nase wegknalle. Einem alten Jäger wie mir macht man so schnell nichts vor. Innerlich hatte sich Luitpold seinen Triumph schon wunderbar ausgemalt. Und jetzt?
„Ein Jäger weint nicht!“, ruft sich Luitpold zur Räson und blinzelt die Tränen weg. Er richtet sich auf, stellt das Gewehr mit dem Schaft auf den Boden und hält andächtig den Hut vor die Brust. Das gute Tier hat eine Gedenkminute verdient.
„Welcher Idiot …?“ Luitpold fährt herum. Ein heftiger Stoß in den Rücken hat ihn soeben jäh in die Wirklichkeit zurückgeholt. Er erstarrt. Vor ihm steht ein stattlicher Eber mit imposanten Hauern. Der Keiler hat den Kopf gesenkt und scharrt mit den Hinterbeinen. Aus seinem Maul dampft wütender Atem.
Luitpold macht vorsichtig ein paar Schritte rückwärts, hält die Büchse im Anschlag, zielt auf die Wildsau. Er drückt ab. Ein hohles Klacken. Sonst nichts. Noch immer steht der Keiler in Angriffspose da – unversehrt und unbeeindruckt. So als hätte er geahnt, dass keine Patrone im Lauf ist.
„Ruhig, ganz ruhig.“, redet Luitpold auf das Tier ein, wie auf einen wütenden Hund, der Haus und Hof verteidigt. Noch immer setzt Luitpold vorsichtig Schritt hinter Schritt, erkundet das Gelände aus den Augenwinkeln. Vielleicht gibt es ja doch einen Hochsitz, auf den er sich flüchten, oder einen Baum, auf den er klettern könnte. Aber da ist nichts. Nichts, was ihm Schutz bieten könnte. Der Schwarzkittel folgt ihm ganz gemächlich – wie in Zeitlupe. Lässt es nicht zu, dass sich der Abstand zwischen ihnen vergrößert. Eine falsche Bewegung und er greift an. Da ist sich Luitpold ganz sicher.
„Ich tu dir nichts, wenn du mich verschonst“, würgt er heraus und reißt seine Arme und das Gewehr hoch, um zu zeigen, dass er sich ergibt. Ein ungeeigneter Versuch, denn jetzt macht der Keiler Ernst. Er schlägt heftig mit dem Kopf auf und ab und faucht furchterregend, wie ein feuerspeiender Drache.
Das ist genug.
In seiner Todesangst lässt Luitpold das Gewehr fallen, dreht sich blitzartig um und rennt los. Ohne nach links und rechts zu schauen stolpert er durch das modrige Laub, reißt die Füße hoch und springt über die dürren Äste und Zweige, die knackend unter seinen Stiefeln brechen.
Und dann? In seiner Panik übersieht der Fürst den Baumstumpf unter dem Laubhaufen. Er bleibt mit dem Fuß daran hängen, strauchelt und verliert das Gleichgewicht. Ohne den Sturz abfangen zu können, landet der Jäger bäuchlings im Morast einer Wildschweinsuhle.
Platsch! Wie eine plattgewalzte Kröte liegt Luitpold im tiefschwarzen Schlamm und streckt alle Viere von sich. Der Keiler steht schnaubend über ihm …
***
Er liegt auf einem Bett aus Tannenwedeln inmitten der Strecke. Um ihn herum lauter tote Wildschweine. Sie haben ihm den Bauch aufgeschlitzt und seine Eingeweide den Wildtieren geopfert. Die Jäger tragen lodengrüne Jacken und leuchtend orange Signalwesten. Sie lachen und prahlen mit ihren Heldentaten. „Ich hab gleich zwei hintereinander erledigt. Da hat jeder Schuss gesessen“, hört er einen Schützen angeben.
Die Jagdhornbläser haben die Arme in die Hüfte gestemmt. Auf Kommando heben sie die Instrumente zum Mund, um die Strecke zu verblasen. „Sau tot“ schallt der Choral der Hörner durch den Wald. So hatte ich mir mein letztes Halali nicht vorgestellt, geht es Luitpold durch den Kopf, bevor er das Bewusstsein verliert.
***
„Sag mal, was machst du denn hier im Dreck?“
Luitpold schreckt auf. Sein Sohn Bodo hat ihn am Kittel gepackt und versucht, ihn aus dem Schlamm zu ziehen. Der Fürst rappelt sich auf und klopft sich den Morast von der Hose. „Das sieht man doch!“, sagt er pikiert, „Ich nehme ein Moorbad.“
Und Eberhard?
Währenddessen läuft Eberhard wie ein Getriebener vor dem Fenster auf und ab. Immer wieder legt er den Feldstecher an und schaut zum Waldrand. Er hört die Schüsse, aber er kann nicht erkennen, wo sich die Schützen verschanzt haben. Nichts bewegt sich. Selbst die Zweige der blattlosen Bäume scheinen in der Novemberkälte erstarrt zu sein. „Verdammt!“ flucht er und wischt die beschlagene Fensterscheibe frei. Dann stutzt er. Irgendetwas ist da? Ein dunkler Schatten! Die Silhouette eines Wildschweins? Jetzt kann er es erkennen. Das Tier bricht aus der Deckung des Waldes heraus und rast über die Felder auf das Forsthaus zu.
„Hubertus!“, schreit Eberhard.
Schüsse krachen. Die Wildsau stürzt. Totenstille.
Der Himmel hat sich zugezogen. Die ersten Schneeflocken des frühen Winters tänzeln unschuldig vom Himmel und legen sich sanft auf das blutige Fell.
„Diese Schweine!“, keucht Eberhard und reißt sein Gewehr vom Wandhaken. Mit einem wütenden Tritt stößt er die Tür auf und stürmt die Anhöhe hinauf. Vielleicht ist Hubertus ja noch zu retten? Aber es ist zu spät. Das Wildschwein macht keinen Zucker mehr. Ich werde ihn mitnehmen und ihn begraben, beschließt Eberhard und betrachtet sich das Tier genauer. „Aber ... das ist ja gar nicht Hubertus !“, stammelt er. „Gott sei Dank! Aber wo um Himmels Willen ist er?“
Erneut lässt Eberhard seinen Blick am Waldsaum entlang schweifen. Scannt das Gelände regelrecht ab. Und tatsächlich – jetzt bewegen sich die Zweige der jungen Buchen. Eine Gestalt schält sich aus dem Gesträuch. Was ist das? Ein Mensch? Ein Tier? Eberhard reibt sich die Augen. Er kann kaum glauben, was er da sieht. „So ein Hundling!“, prustet er und schüttelt sich vor Lachen, als er die skurrile Erscheinung erkennt. Es ist Hubertus. Zwischen seinen borstigen Lauschern klemmt ein grüner Jägerhut mit einer prächtigen Fasanenfeder. Am Hals des Schwarzkittels baumelt ein Jagdgewehr. Stolz wie ein brünftiger Hirsch auf Brautschau steht Hubertus am Waldrand und präsentiert seine Trophäen.
„Los, beeil dich! Ich gebe dir Feuerschutz!“, ruft Eberhard dem Keiler zu und fuchtelt wie wild mit Gewehr herum, als gelte es, einen unsichtbaren Feind in Schach zu halten. Aber Hubertus reagiert nicht.
„Auf was wartest du denn noch?“, schreit Eberhard verzweifelt, als Hubertus noch immer keine Anstalten macht, den Heimweg anzutreten. Stattdessen dreht sich der Keiler um und schaut in den Wald hinein. Und jetzt erkennt Eberhard den Grund. „Hab ich's mir doch gleich gedacht!“, brummelt er in sich hinein, als plötzlich ein weiteres Wildschwein aus dem Wald tritt.
„Endlich!“, bricht es aus Eberhard heraus, als er sieht, wie sich die beiden in Bewegung setzen und in aller Seelenruhe den Hang herunterschreiten. So als könnte ihnen nichts und niemand auf der Welt etwas anhaben.
„Gott sei Dank. Da bist du ja wieder!“, begrüßt ihn Eberhard mit Freudentränen in den Augen. „Ich hab mir solche Sorgen gemacht … Wie ich sehe, hast du noch jemanden mitgebracht. Wie schön!“
„Oink“, grunzt Hubertus stolz, als er mit seiner Braut im Schlepptau zum Forsthaus geht.
„Guter Geschmack!“, frotzelt Eberhard und betrachtet bewundernd den glänzenden, rosaroten Rüssel und das bernsteinfarbene Fell der jungen Wildschweindame. „Augen wie Miss Piggy und ein Hintern wie Marilyn Monroe.“
„Oink“, antwortet Hubertus, als hätte er Eberhards Kompliment verstanden.
„So wie ich das sehe, ist es Zeit für ein richtig kuscheliges Liebesnest.“ Eberhard öffnet den Verschlag des ehemaligen Ziegenstalls. „Keine Angst, ich hab schon vorgesorgt.“
Erschöpft, aber glücklich lassen sich Hubertus und seine Ulla auf die warmen Decken fallen und machen sich über die süßen Maiskolben her, die Eberhard dort als Willkommensgruß für sie ausgelegt hat. „Oink“, schmatzt Hubertus glücklich und sieht seine Angebetete huldvoll an.
„Oink“, schmachtet Ulla zurück und schlägt verschämt die Augen nieder. Ein bisschen schüchtern ist sie schon noch.
Ende
Wie es weiterging
Tja, lieber Leser, wie du siehst, ist die Geschichte von Hubertus und seiner Ulla gut ausgegangen, und sie lebten für eine lange Zeit glücklich zusammen im ehemaligen Ziegenstall des alten Forsthauses und haben viele Kinder bekommen. Aber, so wie bei den Menschen auch manchmal, hat es dann doch auf Dauer nicht geklappt mit den beiden und sie haben sich getrennt. Man munkelt, Hubertus habe es mit der Treue nicht so ganz ernst genommen … Jedenfalls ist Ulla mit dem jüngsten Kind nach Partenstein in den Brunnengarten gezogen, wo sie noch heute lebt und zu bewundern ist. Tipp: Einfach mal hinfahren und nachschauen!
Hubertus allerdings hat die Trennung bedauerlicherweise nicht verkraftet und hat sich versoffen. Vorher aber hat er in Lohr eine Brauerei gegründet und das herrliche Keilerweißbier erfunden. Es wird noch heute in Würzburg gebraut. Und weil er sich um die Lohrer Festwoche so verdient gemacht hat, haben sie ihm auf der alten Mainbrücke in Sendelbach ein Denkmal gesetzt. Habt ihr nicht gewusst? Ist aber so!
Und Eberhard?
Dem ist es nach dem Auszug von Hubertus und Ulla dann doch ein bisschen zu einsam geworden in dem alten Forsthaus. Deshalb ist er nach Lohr zurückgezogen und hat mit der Landrätin eine Boutique für edle Second-Hand-Klamotten eröffnet.
Geschrieben anlässlich des einjährigen Bestehens unseres Literatenkreises „Der Schreibtisch im Spessart“